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Authors: Anne Bishop

Tags: #Fiction, #Fantasy, #General

Sebastian (48 page)

BOOK: Sebastian
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Kapitel Neunzehn
Mit Jeb an ihrer Seite und einer Reisetasche über der Schulter lief Nadia die Hauptstraße des Sündenpfuhls entlang. Dabei beschwerte sie sich darüber, wie albern dieser Besuch war, während sie den mitgebrachten Korb von einer Hand in die andere nahm. Immer wieder ertönten plötzlich Musik und Stimmengewirr, wenn sich die Türen der Tavernen und Varietétheater öffneten und schlossen. Die farbigen Lampenglocken der Straßenlaternen verliehen dem Licht etwas Festliches, anstatt für einfache Beleuchtung zu sorgen. Es ließ sie an den spätabendlichen Teil eines Erntefestes denken - die Zelte und Buden, deren Existenz die meisten Besucher eines Festes nicht wahrnahmen. Es herrschte eine aufgeladene Stimmung, und die Niedertracht, die in der Resonanz mitschwang, reichte aus, um sich an dem Samenkorn des Zweifels zu reiben, das sich während der letzten Tage in ihrem Herzen eingenistet hatte.
»Ich verstehe nicht, warum wir das nicht im Cottage lassen konnten«, murrte Jeb.
»Es sah nicht so aus, als wohne jemand im Cottage«, erwiderte Nadia und versuchte, die Unruhe zu ignorieren, die sie befallen hatte, als sie feststellen musste, dass Sebastian den Ort verlassen hatte, der ihm die letzten zehn Jahre ein Zuhause gewesen war. »Ich möchte sehen, wie es Lynnea geht, das ist alles. Und ich wollte mir den Pfuhl anschauen.«
»Es gibt ihn jetzt seit ein paar Jahren«, sagte Jeb und sah sie mit der Aufmerksamkeit eines Mannes an, der in
den letzten Nächten zu oft durch böse Träume geweckt worden war. »Gibt es einen Grund, warum du das Bedürfnis verspürst, ihn jetzt anzusehen?«
Zahllose Gründe.
Aber diese Worte würde sie nicht laut aussprechen, würde ihnen nicht einmal so viel Bedeutung zugestehen. Fünfzehn Jahre lang hatte sie den unerschütterlichen Glauben aufrechterhalten, dass Glorianna keine todbringende, gefährliche Kreatur war, wie die Zauberer behaupteten. Als Glorianna den Sündenpfuhl erschaffen und somit verändert hatte, wie Ephemeras Landschaften ineinander übergingen, hatte Nadia darauf vertraut, dass ihre Tochter, die über eine solch außergewöhnliche Begabung verfügte, eine Notwendigkeit gesehen hatte, die den anderen Landschafferinnen verborgen geblieben war.
Fünfzehn Jahre lang hatte sie Glorianna vertraut, denn weniger zu tun, hätte Gloriannas Glauben daran, dass sie die Unterstützung ihrer Mutter besaß, vielleicht erschüttert - und Glorianna war bereits zu alleine auf der Welt. Jetzt höhlte das kleine Körnchen Zweifel dieses Vertrauen aus, und sie musste selbst sehen, musste wissen, was für eine dunkle Landschaft mit diesem Ort geschaffen worden war.
»Zum ersten Mal hier?«, fragte eine Stimme und riss Nadia damit aus ihren Gedanken.
Der blonde Mann, der sie ansah, hatte das selbstbewusste Grinsen eines Unruhestifters, aber als sie sich ihm weit genug genähert hatte, entdeckte sie ängstliche Vorsicht in seinen blauen Augen.
»Was bringt Euch darauf, dass wir zum ersten Mal hier sind?«, fragte Jeb herausfordernd.
Das selbstbewusste Grinsen bekam etwas Hinterhältiges. »Ihr seht so aus. Also …«
Diese blauen Augen waren die ganze Zeit über auf ihr Gesicht gerichtet, aber sie hätte schwören können, dass jemand sie gestreichelt hatte, von den Brüsten bis
zur Hüfte, und dass seine Hände sich jeder Rundung, über die sie verfügte, bewusst waren. Bis auf Sebastian hatte sie noch nie einen Inkubus getroffen, aber sie war sich sicher, dass sie gerade einem gegenüberstand. Die Erfahrung war auf eine Art … beunruhigend …, die sie dazu brachte, sich reif und weiblich zu fühlen.
»Wer ist Euer Begleiter?«, fragte der Inkubus.
»Ich bin der
Freund
der Dame«, knurrte Jeb.
Nadia blinzelte. Hatte sie gerade gehört, wie Jeb - der bodenständige, vertrauenswürdige Jeb - sie für sich beanspruchte wie einen saftigen Knochen? Als ob irgendein junger Mann, selbst wenn er ein Inkubus war, überhaupt Interesse daran haben könnte, sich mit einer Frau in den Laken zu wälzen, die alt genug war, um seine Mutter zu sein.
Sie blickte erneut in diese blauen Augen - und spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte und ihr Kopf ganz heiß wurde. Wächter und Wahrer, er
hatte
Interesse!
»Wir sind hier, um meinen Neffen zu besuchen«, sagte sie mit fester Stimme, bereit, den Straßenlaternen oder dem Fußmarsch hierher die Schuld zu geben, dass sie errötete. Als er wissend lächelte, um deutlich zu machen, dass er ähnliche Ausführungen dieser Erklärung ständig hörte, fügte sie hinzu: »Sebastian.«
Der Inkubus fuhr zusammen, als hätte sie ihn mit einem Besen verprügelt.
»Ihr seid Sebastians Tante?«, quietschte er.
»Das bin ich.«
»Tageslicht!«
»Wer seid Ihr?«
»Teaser. Gnädige Frau. Tante, gnädige Frau.« Mit einem Gesichtsausdruck, der sich am Rande der Verzweiflung befand, sah er sich um. »Ja, also, warum bringe ich Euch nicht zu Philos Restaurant und sehe dann
nach, wo Sebastian steckt. Er ist hier irgendwo. Das sollte er jedenfalls sein«, fügte er leise hinzu.
Er war noch anziehender, wenn er nervös war, entschied Nadia, während sie und Jeb dem Inkubus die Straße entlang folgten. Auf eine Art … menschlicher, die sie verstand. Und es war angenehm, mit ihm zusammen zu sein.
»Was ist mit Lynnea?«, fragte Nadia. »Wo ist sie?«
»Bei Philo«, antwortete Teaser.
»Fühlt sie sich wohl?«
»Es geht ihr gut. Sie wird ziemlich aufsässig, wenn ich die Handtücher auf dem Badezimmerfußboden liegen lasse oder vergesse, die Wanne auszuspülen. Werden alle Frauen wegen so etwas Männern gegenüber aufsässig, mit denen sie keinen Sex haben?« Teaser hielt inne. »Natürlich wird sie auch Sebastian gegenüber aufsässig, und von dem
bekommt
sie Sex. Äh …«
Nadia seufzte. Bevor er erfahren hatte, dass sie Sebastians Tante war, hätte er alles Erdenkliche zu ihr gesagt. Jetzt ließ ihn die bloße Erwähnung von Sex erröten wie einen Schuljungen. »Tante zu sein, macht mich nicht weniger zur Frau«, murmelte sie.
»Es ist anders«, gab Teaser ebenfalls murmelnd zurück.
»Wie?«
»Ich weiß nicht. Es ist einfach so.«
Es war erstaunlich, festzustellen, dass Inkuben so … Wie war noch einmal der Ausdruck, den sie Sebastian gelegentlich hatte murmeln hören? Zimperlich tugendhaft. Ja, das war es. Dass sie so zimperlich tugendhaft sein konnten.
Vielleicht würde sie die Komik des Ganzen in ein oder zwei Tagen erkennen.
»Was ist
das?«,
fragte Jeb, als sie sich vier riesigen, zottigen, gehörnten Kreaturen näherten, die genau vor einem Hof voller Tische und Stühle standen.
»Bullendämonen«, antwortete Teaser und fügte dann hinzu: »Ich hoffe, William Farmer hatte bei seiner letzten Lieferung Eier mit im Wagen.«
Bevor Nadia fragen konnte, was Eier mit solch gefährlich aussehenden Kreaturen zu tun hatten, erhob Teaser die Stimme und sagte: »Das ist Sebastians Tante, die zu Besuch ist und einen Happen essen möchte. Also sucht euch einfach einen Tisch aus und wartet, bis ihr dran seid - und kein Gebrüll, sonst bekommt sie Sodbrennen.«
Die zottigen Kreaturen starrten sie an.
»Om-e-lette?«, grollte eine.
»Sie will euer Omelette nicht«, sagte Teaser. »Setzt euch einfach hin.« Er zog einen Stuhl unter einem freien Tisch hervor und lächelte Nadia an. »Das ist ein guter Platz.«
Für was?,
fragte sie sich, als sie die Statue bemerkte, die ihr am nächsten stand. Und sie bemerkte auch, dass Jebs Gesicht sich grellrot färbte, als er sich umsah. Die Reisetasche entglitt seinem Griff und landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden.
Nadia stellte ihren Korb auf den Tisch und starrte die Statuen an. All die Jahre, die Lee in den Pfuhl gegangen war und gelacht hatte über ihre Sorge, er könnte zu jung dafür sein …
Mutter, wenn ich wild und verrucht sein wollte, würde ich nicht in den Pfuhl gehen. Sebastian ist zweimal schlimmer als eine alte verknöcherte Anstandsdame, wenn es darum geht, dass ich etwas tun könnte, das dir vielleicht missfällt.
Sie hätte wissen sollen, dass ihr Sohn, was solche Dinge betraf, mit der Ehrlichkeit eher sparsam umgehen würde. Und es sah nicht so aus, als müsse ein junger Mann zarten Alters etwas anderes tun, als sich umzusehen, um sich einer interessanten Fortbildung zu unterziehen.
Dunkel. Dekadent. Aber …
Das Herz sprang ihr bis in die Kehle, als plötzlich Gebrüll erklang und jäh wieder verstummte. »Oje! Einer der Bullendämonen hat einem anderen eins auf die Nase gegeben.«
Die Leute an den anderen Tischen zuckten zusammen, bereit, beim ersten Anzeichen eines Kampfes die Flucht zu ergreifen.
Dann trat Lynnea aus der Tür. Vier zottige Köpfe drehten sich um und starrten sie an. Sie hielt vier Finger hoch. Vier Köpfe bewegten sich auf und ab.
»Wie hat sie das gemacht?«, fragte Jeb.
»Sie macht ihnen kein Omelette, wenn sie sich nicht benehmen«, antwortete Teaser und hob eine Hand, um Lynnea auf sich aufmerksam zu machen.
Als sie sich umdrehte und sie erblickte, leuchtete ihr Gesicht vor Freude auf, sie sprang zwischen den Tischen hindurch und streckte ihre Hände nach Nadias aus.
»Ihr seid hier!«, rief Lynnea. »Ich bin so glücklich!« Dann verwandelte sich die Freude in Besorgnis. »Ist zu Hause alles in Ordnung?«
»Es ist alles wunderbar.« Freundschaftlich drückte Nadia Lynneas Hände, bevor sie sie losließ und sich dem Korb zuwandte. »Ich wollte euch nur ein paar Sachen bringen. Ich hätte sie im Cottage gelassen, aber es sah so … unbewohnt aus.«
»Ah. Ja. Sebastian dachte, es sei sicherer, eine Weile hier zu bleiben. Es gab ein paar Schwierigkeiten, wisst ihr, und -«
»Wie seid Ihr hergekommen?«, fragte Teaser und richtete seine Aufmerksamkeit auf Jeb.
»Wir sind über die Brücke gegangen, die in den Wald hinter dem Cottage führt«, antwortete Jeb.
»Aber wie seid Ihr
hier
hergekommen?«
»Zu Fuß.«
»Was ist los?«, fragte Nadia als Teaser anfing, zu fluchen, und Lynnea bestürzt dreinblickte.
»Dazu wird Sebastian das ein oder andere zu sagen haben«, murmelte Teaser.
»Warum sollte Sebastian dazu etwas zu sagen haben?«, fragte Nadia irritiert. Wenn sie die Skulpturen, die zottigen Dämonen und die Tatsache außer Acht ließ, dass hier, anstatt eines sonnigen Morgens Dunkelheit herrschte wie mitten in der Nacht, hätte sie genauso gut in eine Streiterei in ihrem eigenen Dorf geraten sein können. Und in ihren Augen war das Einzige, das schlimmer war, als bei einem Familienstreit zwischen zwei Parteien zu geraten, selbst daran beteiligt zu sein.
»Er wird einiges dazu zu sagen haben, schließlich seid Ihr seine Tante«, erwiderte Teaser hitzig. »Außerdem ist er der -«
»Jetzt aber!« Ein rundlicher Mann mit dunklem Haar und beginnender Glatze eilte an ihren Tisch. »Teaser, lass unsere Gäste sich hinsetzen und eine kleine Erfrischung zu sich nehmen, bevor du anfängst, sie vollzuquatschen. Und Lynnea Schatz …« Er deutete mit dem Kopf auf die Bullendämonen. »Da wartet eine Bestellung darauf, dass du dich ihrer annimmst.«
»Ja, Philo, du hast Recht«, sagte Lynnea. Dann fügte sie eilig hinzu: »Nadia, Jeb, bitte bleibt. Ich bringe euch etwas zu essen, und ihr könnt euch ein wenig ausruhen. Und Teaser? Sei kein Schwachkopf.« Sie lief im Slalom durch die Tische und rannte in das Gebäude.
»Inwiefern macht es mich zu einem Schwachkopf, dass ich mir Sorgen um Sebastians Tante mache?«, rief Teaser und brachte alle Leute im Hof dazu, sich zu ihm umzudrehen.
Herzensgeschwister,
dachte Nadia, und Tränen brannten ihr in den Augen. Lynnea blühte hier auf, wurde von einem ängstlichen Mädchen zu einer willensstarken Frau. Und der verwirrte, verärgerte Mann, der neben
ihr stand, war einer der Gründe für diese Veränderung.
»Tante Nadia?«
Sie drehte sich um und fühlte, wie ihr Herz einen Sprung machte, als sie Sebastian erblickte.
Er hat sich verändert.
Reife hüllte ihn ein wie ein neuer Mantel, der noch ein wenig Zeit brauchte, um sich bequem tragen zu lassen. Aber es war mehr als das. Er strahlte ein Gefühl der Stärke aus, ein Gefühl der … Macht.
»Rechtsbringer«, sagte Nadia.
Sein Körper versteifte sich, als erwarte er einen Schlag, während er leicht den Kopf neigte, um die Wahrheit ihrer Worte anzuerkennen.
Zauberer. Rechtsbringer. Eines sollte wie das andere sein, aber sie waren nicht das Gleiche. Sebastians Vater, Koltak, war ein Zauberer. Aber Koltaks Bruder, Peter, der Mann ihres Herzens und Vater ihrer Kinder, war ein Rechtsbringer gewesen. Sie glaubte, hätte Peter überlebt, so wäre er in der Lage gewesen, Sebastian weit besser zu verstehen, als Koltak es jemals können würde.
»Ist es dem Rechtsbringer peinlich, seine Tante in der Öffentlichkeit zu umarmen?«, fragte Nadia und freute sich darüber, zu sehen, wie Sebastian sich entspannte, als er an den Tisch trat und sie in seine warmen, starken Arme schloss.
Teaser schnaubte. »Das hier ist der Sündenpfuhl. Nichts von dem, was man in der Öffentlichkeit tut, ist uns peinlich.«
Sebastian löste sich von Nadia, ließ aber einen Arm auf ihrer Schulter ruhen. »Jeb ist der Mann, der das Puzzle gemacht hat.«
»Wirklich?« Teasers Augen begannen zu leuchten. »Mir sind da ein paar Dinge eingefallen, die ein bisschen Geld bringen könnten.«
»Warum nimmst du dann Jeb nicht mit an einen anderen
Tisch, während ich mich mit Tante Nadia unterhalte?«, fragte Sebastian.
Ohne Zeit zu verschwenden, führte Teaser Jeb zu einem anderen Sitzplatz, Nadia setzte sich neben Sebastian, und ein Junge, der nicht so aussah, als sei er alt genug, um etwas vom Pfuhl zu wissen, geschweige denn, um hier zu leben, nahm die Reisetasche und den Korb an sich und sagte, dass Philo sie verwahren würde. Bevor Nadia Atem schöpfen konnte, bedeckte Philo den Tisch mit vollen Schüsseln, zwei Gläsern Wein und zwei Tassen Kaffee.
»Sieht so aus, als wolle Philo dir eine Kostprobe aller seiner Spezialitäten geben«, sagte Sebastian. »Es gibt Titten Surprise, Phallische Köstlichkeiten und Oliven.«
Nadia nahm ein Brötchen, erkannte die Form und ließ es wieder fallen.
BOOK: Sebastian
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