Read Sebastian Online

Authors: Anne Bishop

Tags: #Fiction, #Fantasy, #General

Sebastian (16 page)

BOOK: Sebastian
9.01Mb size Format: txt, pdf, ePub
ads
Aber wenn es keine Lüge war …?
Zögernd näherte Gregor sich dem Torbogen. Mit jedem Schritt, den er machte, schien das Tageslicht zu verblassen, aber er ging weiter.
Ihm schauderte, als er unter dem Torbogen hindurchtrat. Er zitterte am ganzen Körper, als er im Schatten der Dornenbüsche über den von aufgedunsenen Pilzen bedeckten Boden schritt. Sein Herz raste, als er das zerstörte Schloss und das offene Tor anstarrte, die ihn wissen ließen, dass jemand das Undenkbare getan und den Garten betreten hatte.
Nicht willens, das Tor weiter zu öffnen, quetschte er sich durch den Spalt. Als sein Blick auf die einfache
Steinmauer fiel, fühlte er für einen Moment Erleichterung darüber, dass es doch nur eine Lüge gewesen war.
Dann bemerkte er den Stock … und den zerbröckelten Mörtel … und das kleine Loch in der Mauer.
»Wahrer des Lichts und Wächter des Herzens steht uns bei«, flüsterte er.
Er wandte sich von der Mauer ab, aber bevor er das Tor erreichte, hörte er …
»Helft mir. Bitte. So helft mir doch.«
Eine vertraute Stimme. Eine geliebte Stimme.
»Lukene?« Er betrachtete die Mauer. Eiskalte Angst ergriff Besitz von seinem Herzen. »Lukene?«
»Gregor? Gregor! Hilf mir.«
Ein Stück Erde neben dem Tor bewegte sich, gerade genug, um den Blick auf ein dunkles Loch freizugeben.
Er näherte sich vorsichtig dem Tor, dem dunklen Loch, und der Stimme der Frau, die er liebte.
»Gregor!«
Eine bleiche Hand, blutig und zerkratzt, streckte sich ihm entgegen.
In seiner Brust kämpften Vorsicht und Liebe miteinander und sein Herz verkrampfte sich.
»Wie …?«
»Ich habe das Loch in der Mauer gesehen und bin in eine andere Landschaft gezogen worden, als ich losrannte, um die anderen zu warnen. Ich … Der Tunnel ist steil. Mein Bein … Ich bin verletzt. Ich kann nicht … Gregor,
bitte.«
Er griff nach ihrer Hand. Er würde sie aus diesem Garten herausholen, weg von dieser Mauer. Dann würde er sie in der Obhut der ersten Schüler lassen, auf die er traf, während er zur Schule rannte und die Landschafferinnen warnte.
Einen Moment lang widerstand sie seinen Bemühungen, sie aus dem dunklen Loch zu ziehen, als müsse sie,
mit ihrer Hand fest in der seinen, seine Berührung erst auskosten, bevor sie all ihre Kraft zusammennahm.
Dann hob sich der Boden wie eine Falltür. Tentakel fuhren heraus und umschlangen ihn. Ein Kopf kam zum Vorschein. Ein Meereswesen. Aber der Körper und die anderen vier Beine waren die einer riesigen Spinne.
Ein scharfer Schmerz brannte in seinem Bauch, als Er ihm einen tiefen Biss beibrachte. Dann hörte er auf, um sich zu schlagen, als das Gift des Bisses seine Gliedma ßen lähmte.
Er zerrte ihn durch die Falltür, einen steilen Tunnel hinunter. Er zog ihn in einen Teich am Ende des Tunnels - seine Beine, seine Taille, seine Brust.
Sein Herz schlug heftig. Seine Lungen kämpften immer noch um Atemluft. Aber er konnte seine Arme und Beine nicht bewegen. Konnte nicht versuchen, zu fliehen.
Er schrie, als Er begann, ihn zu fressen.
 
Die Mahlzeit hätte köstlich sein müssen, aber ein widerwärtiger Brocken hatte alles verdorben. Während Er sich an dem menschlichen Fleisch gütlich getan hatte, war Er in den Geist des Menschen geschlüpft und hatte ihn mit Schrecken erfüllt, die das Fleisch noch süßer machten. Aber selbst als der Geist an der Angst zerbrach, hielt sich noch immer ein Schimmer des Lichts, ein Samenkorn der Hoffnung. Nicht für sich selbst, aber für seine Art. Für die Welt.
Das Männchen hatte seinen Verstand geopfert, um dieses Samenkorn in einem bedeutungslosen Wort zu versiegeln - und war gestorben, bevor Er diesen Lichtschimmer verdunkeln, dieses Samenkorn der Hoffnung aufbrechen, und das in ihm versteckte Geheimnis finden konnte.
Er würde zu dem Ort zurückkehren, an dem die Dunklen lebten. Sie würden die Antwort wissen. Und wenn nicht, würden sie die Lösung finden.
Dann würde Er die Bedeutung des bedeutungslosen Wortes erfahren, das in Ihm das Gefühl von Unwohlsein hinterließ - und ein Samenkorn der Hoffnung enthielt.
Belladonna.
Kapitel Sechs
Mit hängenden Schultern betrachtete Lynnea das Land zu beiden Seiten der Straße. Weideland, Getreide und ein paar Baumgruppen. Nicht viel anders als das Land, das sie kannte, außer, dass es besser gepflegt wirkte, als der Hof, auf dem sie den Großteil ihres Lebens verbracht hatte.
Der Hof war nicht ihr Zuhause, war es nie gewesen. An dieser Wahrheit war sie vor zwei Tagen zerbrochen und mit blutendem Herzen liegen geblieben.
»Mutter hätte dich am Straßenrand stehen lassen sollen«, murmelte Ewan. »Hätte wissen sollen, dass nichts Gutes in dir steckt, sobald sie dich gesehen hat.« Er ließ die Zügel auf den Pferderücken niedersausen. »Komm schon da vorne, du wertloses Stück Krähenköder!«
Das müde Tier ging in eine Art Trab über. Lynnea packte mit einer Hand die Seitenwand des kleinen Bauernwagens, um nicht gegen Ewan zu fallen.
»Ich habe nichts Falsches getan«, sagte Lynnea mit unsicherer Stimme.
»Du hebst deinen Rock für einen verheirateten Mann, während seine Frau arbeitet, um etwas zu essen auf den Tisch stellen zu können, und glaubst, du hast nichts Falsches getan? Ich schätze,
du
glaubst das wirklich.«
»Ich bin in die Scheune gegangen, um die jungen Kätzchen anzuschauen. Das ist alles. Dann hat Vater -«
»Er ist nicht dein Vater«, fuhr Ewan sie an.
Nein, das war er nicht. Er hatte sich nie wie ein Vater verhalten, auch nicht, als sie ein kleines Mädchen gewesen
war. Sie ballte ihre freie Hand zur Faust und presste sie fest in den Schoß, um das Zittern zu verbergen. »Ich wollte nur die jungen Kätzchen sehen.«
Nur, um eine Minute lang mit etwas zu kuscheln, das geliebt werden wollte.
Blinzelnd versuchte sie die Tränen zurückzuhalten und flüsterte: »Mutter hat mir nicht geglaubt.«
Ewan schnaubte. »Warum sollte sie? Wir hatten die Kätzchen am Tag vorher in einen Sack gesteckt und in den Teich geworfen.«
Lynnea starrte ihn an, und die Angst, hinausgeworfen zu werden, mit der sie ihr ganzes Leben lang gelebt hatte, verwandelte sich plötzlich in eine klauenbewehrte Bestie. »Ihr habt die Kätzchen ertränkt? Aber es waren doch Babys!«
»Sie waren nutzlos. Genau wie du.«
Sie kauerte sich auf ihrem Teil des Sitzes zusammen und versuchte, nicht um die toten Kätzchen zu weinen, sich nicht zu fragen, ob sie vielleicht ein ähnliches Schicksal erwartete.
Wäre es anders gekommen, wenn sie sich nicht gewehrt hätte, wenn sie nicht geschrien hätte, als Vater versucht hatte, sie in die Box zu stoßen und ihren Rock hochzuziehen? Wäre es anders gekommen, wenn Mutter den Schrei ignoriert hätte, anstatt in die Scheune zu kommen? Oder wenn sie, als Mutter sie zurück zum Haus gezerrt hatte, nicht damit herausgeplatzt wäre, was Vater über die alte Kuh gesagt hatte, die so ausgetrocknet wäre, dass von nun an sie ihm Milch geben müsse? Erst als sie den verletzten Blick in Mutters Augen gesehen hatte - Augen, in denen nur einen Moment später Eifersucht und Wut aufblitzten -, hatte sie verstanden, was Vater gemeint hatte, und da war es bereits zu spät gewesen.
Aus diesem Grund fuhren Ewan und sie zur Schule der Landschafferinnen. Auf dem Hof war sie nicht länger willkommen. Vater hatte gewollt, dass sie sie ins Dorf
brachten und dort zurückließen, aber Mutter hatte ihn kalt und hart angesehen und gesagt, dass so die Versuchung zu greifbar wäre. Also hatte Vater widerwillig zugestimmt, Ewan frei zu geben, damit er sie zur Schule bringen konnte, von wo aus die Landschafferinnen sie in eine andere Landschaft Ephemeras schicken würden. In einem sehr wörtlichen Sinn würde sie aus dem Leben aller verschwinden, die sie gekannt hatte.
Seit Sonnenaufgang waren sie unterwegs. Jetzt stand die Sonne bereits tief im Westen. Würden sie die Schule erreichen, bevor es ganz dunkel wurde? Oder würden sie sich für die Nacht nach einer Unterkunft umsehen müssen? Von den Dingen, die Ewan den ganzen Tag vor sich hin gemurmelt hatte, wusste sie, was Ewan gerne mit ihr anstellen würde. Was auch immer Vater und Ewan all die Jahre, die sie bei ihnen gewesen war, auf Distanz gehalten hatte, war jetzt zerbrochen. Aber den ganzen Tag über waren zu viele Leute auf den Straßen gewesen, und nun waren sie wahrscheinlich - hoffentlich - zu nahe an der Schule, als dass er seinen dunklen Vorsatz in die Tat umsetzen und so vielleicht die Dinge für
ihn
ändern würde.
Ewan zog die Zügel hart an und brachte das müde Pferd neben einem Pfosten zum Stehen, in dessen Holz ein R eingeritzt war.
»Das war’s«, sagte Ewan und drehte den Kopf, um sie anzusehen. »Steig ab.«
»Was?« Lynnea sah sich um. Die Straße machte eine Kurve, und Bäume blockierten die Sicht. »Ist das die Schule?«
Ewan schenkte ihr ein gemeines Lächeln. »Nein, aber weiter nehme ich dich nicht mit. Bin gestern ins Dorf gelaufen, als Vater und Mutter sich angeschrien haben. Vater hat gedacht, es sei eine Zweitagesreise zur Schule, aber ich hab mit ein paar Leuten gesprochen, und die haben mir von dieser Straße erzählt.«
Ihr Herz schlug wild. »Das ist nicht der Weg zur Schule!«
»Da ist eine Resonanzbrücke hinter der Kurve. Deswegen das R in dem Pfosten. Ich gehe in eine andere Landschaft, um ein bisschen Spaß zu haben. Du steigst hier aus. Ich habe zwei Tage frei, bevor Vater mich wieder zu Hause erwartet, und ich werde sie nicht für ein Stück Krähendreck wie dich verschwenden. Und ich werde nicht zulassen, dass der Dreck in dir beeinflusst, in welche Landschaft
ich
komme.« Er versetzte ihr einen harten Schubs, der sie beinahe vom Wagen stieß. »Steig ab.«
»Aber …« Als er die Hand zur Faust ballte, kletterte sie hastig vom Wagen. »Wie soll ich die Schule finden?«
Ewan nahm die Zügel auf. »Geh über die Brücke - und hoffe, dass du an einem Ort herauskommst, der besser ist, als du es verdienst. Los geht’s!«
Fassungslos darüber, dass er getan hatte, was sie schon immer fürchtete - sie am Straßenrand zurückzulassen, wie ein Stück Abfall -, hätte sie ihn beinahe bis zur Wegbiegung fahren lassen, bevor sie daran dachte, dass die Tasche mit ihren Kleidern noch hinten auf dem Wagen lag. »Ewan!«, rief sie. »Ewan! Meine Tasche!«
Vielleicht hatte er sie gehört, vielleicht aber auch nicht. So oder so fuhr er um die Kurve und verschwand.
Einen Augenblick später begann er zu schreien.
Sie rannte die Straße hinunter. Hatte das Pferd vor etwas gescheut und Ewan vom Wagen geworfen? Er hatte geschrien, also musste er Schmerzen haben. Wo könnte sie Hilfe holen, wenn er sich schwer verletzt hätte, das Pferd durchgegangen war und sie deshalb keine Möglichkeit hatte, Ewan irgendwo hinzubringen?
Sie rannte um die Kurve - und kam schlitternd zum Stehen. Die Härchen auf ihren Armen stellten sich auf, als sie versuchte zu begreifen, was sie da sah.
Der Wagen versank verkehrt herum im Wasser eines Teiches, der die halbe Straße bedeckte. Das Pferd trat
panisch um sich. Kein Zeichen von Ewan, aber sie glaubte, immer noch seine gedämpften Schreie zu hören.
Vorsichtig und mit klopfendem Herzen näherte sie sich dem Wasser und dem strampelnden Pferd.
»Ruhig, mein Junge«, flüsterte sie. »Ruhig.«
Das Pferd schlug um sich, als würde das Geräusch einer vertrauten Stimme es nur noch mehr aufregen, anstatt es zu beruhigen. Als sich sein rechtes Vorderbein aus dem Wasser hob, sah sie eine seltsame, fleischige Ranke, die sich von der Schulter bis zur Fessel um das Bein geschlungen hatte. Und dann peitschten innerhalb eines Augenblickes zwei weitere Ranken aus dem Wasser. Ihre von Saugnäpfen bedeckten Unterseiten wickelten sich um den Hals des Pferdes und um sein anderes Vorderbein.
Das Pferd schrie, als es hinuntergezogen wurde.
Lynnea starrte den Teich an, beobachtete, wie das aufgewühlte Wasser sich rot färbte. Sie musste weg von diesem Ort. Wie weit war der letzte Hof entfernt, den sie gesehen hatte? Egal. Die Sonne ging unter. Sie musste von hier fort, so lange sie noch nach Fallen Ausschau halten konnte.
Sie drehte sich um - und erstarrte. Rostfarbener Sand bedeckte die Straße. Er war noch nicht da gewesen, als sie um die Kurve gerannt war. Sie konnte nicht darüber hinwegspringen, und sie fürchtete sich davor, neben der Straße durch die Bäume zu laufen, um ihn zu umgehen.
Was nur die Brücke übrig ließ.
Reise leichten Herzens.
Ein paar Schritte zurück, um mehr Abstand zum Sand zu gewinnen. Dann drehte sie sich um - und schluchzte auf. Die Wasserfläche hatte sich ausgebreitet. Nur ein dünner Streifen Straße blieb ihr noch, kaum breit genug, um darauf zu laufen. Wenn auch dieser erst einmal unter dem Wasser verschwunden wäre, gäbe es keinen sicheren Weg zur Brücke mehr.
Sie hatte gehört, dass man, wenn man eine Brücke in eine andere Landschaft überquerte, an das dachte, was man auf der anderen Seite finden wollte. Dann würde man, wenn die Wächter der Herzens mit einem waren, an dem Ort ankommen, an den man gehörte.
Was sie sich von ganzem Herzen wünschte, war ein Ort, an dem sie sich sicher fühlen konnte, an dem sie nicht die ganze Zeit Angst haben müsste. Ein Ort, an dem jemand sie liebte.
BOOK: Sebastian
9.01Mb size Format: txt, pdf, ePub
ads

Other books

Killer Girlfriend: The Jodi Arias Story by Brian Skoloff, Josh Hoffner
Fake Out by Rich Wallace
Rock Star by Collins, Jackie
Moving On by Rosie Harris
Summer of Yesterday by Gaby Triana
Phoenix by Jeff Stone
Growing Up in Lancaster County by Wanda E. Brunstetter
The Prince Kidnaps a Bride by Christina Dodd