Read Sebastian Online

Authors: Anne Bishop

Tags: #Fiction, #Fantasy, #General

Sebastian (29 page)

BOOK: Sebastian
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»Also hast du dich entschieden, mir nicht zu sagen, dass Glorianna ihre Zukunft um meinetwillen geopfert hat.«
»Gib nicht mir die Schuld«, fuhr Lee ihn an. »Als ich herausgefunden habe, was geschehen war, war es bereits zwei Jahre zu spät, um noch etwas daran zu ändern. Was hättest du tun können, Sebastian? Ich war fünfzehn; du warst siebzehn. Was hätte einer von uns tun können? Die Zauberer hatten sie verurteilt. Die anderen Landschafferinnen hatten sie ausgestoßen. Alles was ich tun konnte, war meine Ausbildung so schnell wie möglich zu Ende zu bringen, um in der Lage zu sein, ihr als Brückenbauer zu helfen, denn du kannst dir verdammt sicher sein, dass niemand anderes es wissentlich tun würde. Und ich musste vorsichtig sein, immerzu, weil ich Gloriannas Bruder war und sie mich ständig beobachteten, um zu sehen, ob meine Gabe irgendwelche ungewollten … Ausprägungen zeigt.«
»Wie zum Beispiel die Fähigkeit, eine Landschaft über eine andere zu legen?«
»Genau. Nur meine Familie weiß davon.«
Sebastian zögerte, nahm die Bedeutung dessen auf, was Lee gerade im Zorn gesagt hatte. Als Lee ihm von seiner seltenen Fähigkeit erzählt hatte, war er sich bewusst gewesen, dass sein Cousin etwas sehr Intimes mit ihm teilte, aber er hatte nicht erkannt,
wie viel
Vertrauen Lee ihm damit entgegenbrachte.
Etwas, das nur meine Familie von mir weiß.
Und er hatte auch nicht erkannt, wie schwierig die
Jahre an der Schule für Lee gewesen sein mussten. »Warum bist du geblieben?«
»Weil ich die formale Ausbildung brauchte. Oh, nicht dass ich viel von dem Wissen benötigte. Als wir noch Kinder waren, habe ich beim Spielen mit Glorianna mehr gelernt als in den ersten drei Jahren in der Schule. Aber wenn ich die formale Ausbildung nicht durchlaufen hätte, um zu beweisen, dass mein Talent keine potentielle Gefahr für Ephemera darstellt, wäre auch ich zum Ausgestoßenen erklärt worden, und das hätte Mutter und Glorianna gar nichts genutzt.«
Sebastian ließ den Kopf hängen. »Es tut mir leid, dass ihr es alle so schwer hattet, dass Gloriannas Leben so verlaufen ist … meinetwegen.«
»Es war nicht deine Schuld, also hör auf, dich selbst zu bemitleiden.«
Das traf sowohl seinen Zorn als auch seinen Stolz. Er hob den Kopf und sah seinen Cousin wütend an.
Lee blickte aufs Wasser hinaus. »Es war nicht deine Schuld, und auch der Pfuhl war nicht der Grund. Nicht wirklich. Während meiner Ausbildung habe ich ein paar Dinge mitbekommen, die mich auf den Gedanken gebracht haben, dass dies alles nur ein Vorwand war. Bevor sie die Schule überhaupt betreten hatte, vermuteten die Zauberer bereits, dass Gloriannas Macht alles in den Schatten stellen könnte, was für eine Landschafferin als ›normal‹ galt, und sie
wollten
sie einschließen, ihren Garten versiegeln, sie verurteilen. Wenn nicht der Pfuhl, wäre es etwas anderes gewesen, zu einer anderen Zeit, wenn sie es vielleicht schwerer gehabt hätte, zu entkommen.«
»Wie kommst du darauf?«
»Wie gesagt, Dinge, die ich zufällig mit angehört habe. Die Zauberer kommen mehrmals im Jahr vorbei, gleich nach den Bewertungen, bei denen es darum geht, welche Schüler aufsteigen und welche nicht. Sie fragen immer
nach den stärksten Schülerinnen der Landschafferinnen, nach denen, die in der Zukunft zu einem ›Problem‹ werden könnten, wenn sie der aufmerksamen Kontrolle erst einmal entkommen sind.« Lee sah Sebastian an. »Glorianna war nicht die Erste, weißt du. Jedes Mal, wenn ich einen freien Tag hatte, bin ich durch das Schulgelände gelaufen. Es gab noch andere versiegelte Gärten, manche mehrere Hundert Jahre alt, oder noch älter. Einige waren vor so langer Zeit versiegelt worden, dass das Datum in die Mauer geritzt und nicht in eine Messingtafel geprägt war. Ich glaube …« Er senkte die Stimme und beugte sich nach vorn. »Ich glaube, die Zauberer entledigen sich seit Generationen der stärksten Landschafferinnen. Ich glaube, sie erfinden irgendeinen Vorwand, um das Mädchen zu einer Gefahr für Ephemera zu erklären und sperren sie dann in einen Käfig, den sie selbst geschaffen hat. Theoretisch kann das Mädchen über die Ankerpunkte in ihrem Garten alles erreichen, was sie zum Überleben braucht - Nahrung, Kleidung, Unterkunft -, aber sie ist allein. Sie kann Dinge erreichen, aber keine Personen. Das ist die eigentliche Strafe, wenn die Rechtsbringer jemanden einschließen. Die bestrafte Person lebt allein - und sie stirbt allein. Und ihre Blutlinie wird ausgelöscht.«
Sebastian stützte sich mit den Händen auf die Bank und lehnte sich nach vorne, so dass er seine Stimme nicht über ein Flüstern heben musste. Tageslicht! Er fühlte sich, als tausche er abgrundtief böse Geheimnisse aus, die ihn das Leben kosten würden, sollte jemand anderes hören, was Lee ihm gerade erzählte.
Und vielleicht stimmt das auch.
»Du kannst nicht wissen, was mit den Mädchen geschieht, ob man sie wirklich so alleine lässt«, sagte Sebastian.
»Doch, das kann ich. Weil ich vor zwei Jahren eine von ihnen gefunden habe.« Lee schüttelte den Kopf. »Ihr Ruf war so stark, dass ich eine Brücke geschaffen habe,
um ihr zu antworten. Und ich habe sie gefunden. Sie war sehr alt und ziemlich durcheinander. Sie lief durch einen Wald und sammelte Blätter und Zweige. Ich weiß nicht, ob sie sie für essbar hielt oder ob sie einfach etwas zu tun haben wollte. Sie trug Lumpen, die ihren Körper kaum bedeckten, und sah so zerbrechlich aus, als wäre sie aus Glas …
Dann hat sie mich gesehen. Und sie hat mir trotz allen Wahnsinns davon erzählt, wie man sie in ihrem Garten eingeschlossen hat und was die Rechtssprechung der Zauberer für ein Mädchen bedeutet, das verurteilt wird.«
»Aber sie war verrückt«, protestierte Sebastian. »Du weißt nicht, ob irgendetwas Wahres an ihrer Geschichte war.«
Selbst im Licht der Laterne, mit dem Gesicht halb im Schatten, konnte Sebastian den Schmerz in Lees Augen erkennen.
»Sie hat über ihre Schwester gesprochen. Dass sich ihre Schwester um das Baby kümmern würde. Und dass das Kind sowohl den Samen des Lichts als auch den der Dunkelheit in sich tragen - und zu einer Frau heranwachsen würde, die sogar den Weltenfresser besiegen könnte, wenn die Wächter der Dunkelheit sie nicht vernichteten, bevor sie die Blüte ihrer Macht erreicht hätte.
Dann hat sie von zwei Pflanzen je ein Stück abgebrochen und mir entgegengestreckt. Als ich sie nehmen wollte, spürte ich, wie meine Hand durch eine mächtige Barriere brach. Und dann ist sie verschwunden.« Lee rieb sich den Nacken. »Irgendwie hatte meine Brücke die Barriere soweit aufgerissen, dass ich in der Lage war, sie zu sehen und mit ihr zu sprechen, aber nicht weit genug, dass sie die Berührung einer menschlichen Hand spüren konnte. Ich bin eine ganze Stunde durch den Wald gelaufen. Ich war im gleichen Land, aber nicht in derselben Landschaft. Aber … die gleichen Pflanzen standen noch dort, und ich glaube, ich habe die Nachricht verstanden.
Wegen dieser Nachricht habe ich Mutter oder Glorianna nie von der alten Frau erzählt.«
»Nachricht? Was für eine Nachricht kann man mit zwei Pflanzen übermitteln?«
»Die Pflanzen, die sie mir geben wollte, waren Herzenshoffnung … und Tollkirsche. Belladonna.«
Sebastian fühlte, wie ihm der Atem stockte, spürte, wie sein Herz hart gegen seinen Brustkorb schlug. Aber das Wort ›Belladonna‹ ließ seine Gedanken zum Ausgangspunkt dieses Gesprächs zurückkehren.
»Warum sollten die Zauberer die besten Landschafferinnen vernichten? Und warum sollten die Landschafferinnen in der Schule damit einverstanden sein?«
»Wie sind die Zauberer Rechtsbringer geworden, Sebastian?«, fragte Lee. »Warum sind sie diejenigen, die entscheiden, dass jemand auf irgendeine Art zu … fehlerhaft … ist, um in den Landschaften des Tageslichts zu leben und an den dunkelsten Ort geschickt werden muss, der in der Resonanz seines Herzens zu finden ist? Niemand erinnert sich noch daran. Es sind die Landschafferinnen, die eigentlich das Urteil des Herzens sprechen und die Person in eine andere Landschaft schicken, aber es sind die Zauberer, die entscheiden, wann sie es tun müssen. Wie sind sie zu einer solchen Macht in unserer Welt geworden?«
Sebastian lehnte sich zurück. Ihm war nicht wohl bei dem, was er gerade gehört hatte. Wenn es stimmte, dass die Zauberer systematisch alle Landschafferinnen mit überlegenen Kräften vernichteten, so bedeutete das, dass die Rechtsbringer etwas mit Ephemera vorhatten, von dem niemand etwas wusste. Aber was sollte das sein? Und warum?
»Na gut«, sagte Lee und griff nach der Laterne. »Ich weiß nicht, welche Tageszeit es für dich ist, aber ich muss ein paar Stunden schlafen, bevor ich in die Schule gehe und meine Arbeit aufzeichne.«
Die Schule.
Für kurze Zeit hatten die neuen Entdeckungen das Entsetzen überlagert, das ihn noch immer erfüllte. Jetzt kehrte es mit aller Macht an die Oberfläche zurück. »Das kannst du nicht.«
»Ich muss. Ich habe keinen festen Landschaftskreis - zumindest keinen, von dem die Schule weiß -, also muss ich alle drei Monate die Orte der Brücken, die ich geschaffen habe, und die Landschaften, die sie verbinden, aufschreiben.«
Sebastian ergriff Lees Unterarm. »Du kannst nicht zurück zur Schule. Alle dort sind tot.«
Lee versteifte sich. »Wovon redest du?«
»Der Weltenfresser ist entkommen. Er jagt wieder in den Landschaften.«
»Wer hat dir das erzählt?«
»Glorianna.« Er spürte, wie Lee unter seiner Hand erzitterte. »Ich glaube, Er hat die Schule angegriffen. Da waren Kreaturen - riesige Ameisen, riesige Spinnen, andere Wesen -, und ich habe ein Klassenzimmer voller Leichen gefunden.« Oder vielmehr voller Leichenteile, aber das sagte er nicht.
»Alle?«
Sebastian zögerte, als er das Entsetzen in Lees Stimme hörte. »Ich weiß es nicht. Wir sind weggerannt, haben es bis zu Gloriannas Garten geschafft und sind hierher gekommen.« Er ließ Lees Arm los und zog das Stück Marmor aus seiner Tasche. »Damit.«
»Eine Einmalbrücke«, sagte Lee und strich mit dem Daumen über den Marmor. »Ich habe sie einmal für Glorianna angefertigt, als ich zu Hause gewesen bin.« Mit festem Blick sah er Sebastian an. »Ich habe drei Stück hergestellt, die zu verschiedenen Landschaften führen. Dieser hier war die Brücke in die Heiligen Stätten.«
»Als ich meine Hand ins Wasser getaucht habe, konnte ich von den anderen Steinen nichts wahrnehmen. Nur
von diesem.« Er zögerte. »Vor dem Tor zu Gloriannas Garten lag ein Stein.«
»Schwarzer Marmor?«
»Nein, nur ein polierter Stein. Ich bin über ihn gestolpert. Wenn das nicht passiert wäre, hätte ich die Tafel nicht bemerkt.«
Lee rieb sich den Nacken. »Dann wollten die Wächter des Herzens vielleicht, dass du es jetzt herausfindest. Manchmal ist es eine Kleinigkeit, die ein ganzes Leben verändern kann.« Er seufzte. »Du musst auf den Achat getreten sein. Er hat eine Brücke zum Eingang des Teils der Schule enthalten, der den Brückenbauern gehört. Der schwarze Marmor war mit dem Pfuhl verbunden. Wenn er noch im Brunnen gewesen wäre, hättest du es gespürt. Das bedeutet, dass Glorianna irgendwann in die Schule zurückgekehrt sein muss und ihn mitgenommen hat. Verdammt leichtsinnig von ihr, dieses Risiko einzugehen.«
»Sie wusste, dass es in der Schule Schwierigkeiten gab.« Sebastian hörte das Zögern in seiner Stimme, und er hasste sich dafür, aber er wusste, dass Lee die Frage in seiner Aussage verstanden hatte.
»Glorianna glaubt daran, dass die Menschen ihre eigenen Entscheidungen treffen müssen, ob zum Guten oder zum Schlechten. Aber wenn sie vermutet hätte, dass der Weltenfresser zu einem solchen Angriff im Stande ist, hätte sie dir unumwunden gesagt, dass du nicht zur Schule reisen sollst. Sie hat eine Verbindung zu Ephemera wie keine andere Landschafferin. Wenn sie es gewusst hätte, hätte sie sichergestellt, dass du die Schule nicht erreichen kannst.«
Sebastian fühlte, wie sich die Anspannung in ihm löste, nur um gleich darauf wiederzukehren. »Was geschieht jetzt mit Ephemera?«
»Die meisten Landschafferinnen und Brückenbauer wohnen nicht in der Schule. Sie sind dem Angriff wahrscheinlich nicht zum Opfer gefallen. Selbst wenn die
Landschafferinnen zu ihren Gärten zurückgekehrt wären, sobald sie bemerkten, dass etwas sie bedrohte, wären sie dort nur einen Schritt davon entfernt, in eine ihrer anderen Landschaften zu fliehen.«
Sebastian musterte seinen Cousin. »Du solltest niemals jemanden anlügen, mit dem du schon Karten gespielt hast.«
»Dann kann ich wohl froh sein, dass ich nie mit jemandem aus der Schule Karten gespielt habe,
die
belüge ich nämlich bereits mein ganzes Leben lang«, entgegnete Lee scharf. Dann sah er hinaus aufs Wasser. »Die Schule ist der Mittelpunkt, weil die Gärten dort liegen. Wenn eine Landschafferin durch den Garten in die Schule zurückkehrt und bemerkt, dass etwas Schlimmes geschehen ist, wird sie das Gelände wahrscheinlich wieder verlassen, bevor sie angegriffen wird, aber …«
»Sie hat nicht länger Zugang zu allen Landschaften in ihrer Obhut, richtig?«
»Ich bin mir nicht sicher. Meine Mutter kann von einer ihrer Landschaften in eine andere übertreten, ohne in ihren Garten zurückzukehren, aber sie ist eine Landschafferin der Fünften Stufe. Weniger begabte Landschafferinnen haben diese Fähigkeit nicht. Sie sind davon abhängig, Zugang zu ihrem Garten zu haben.«
»Also was geschieht mit Ephemera?«
Lee schloss die Augen. »Ohne erneuert zu werden, wird die Resonanz der Landschafferinnen ein paar Wochen, vielleicht einen Monat, bestehen bleiben. Danach...« Er schluckte trocken. »Danach wird niemand mehr zwischen Ephemera und dem menschlichen Herzen stehen, also wird die Welt beginnen, als Antwort alle seine Gefühle Gestalt werden zu lassen. Ein Kind wird einen Wutanfall bekommen, und der Brunnen seiner Familie versiegt. Ein Bauer wird sich mit seiner Frau streiten, und wenn er zur Arbeit aufs Feld geht, tritt sein Pferd in ein Loch, das auf einmal erscheint und bricht sich ein Bein. Die Leute werden
sich gegenseitig die Schuld an ihren Sorgen geben, und alles wird schlimmer und schlimmer werden, weil die dunklen Strömungen immer stärker werden - und der Weltenfresser wird all diese dunklen Gefühle nutzen können, um Schrecken ins Leben zu rufen, die aus den größten Ängsten der Menschen geschaffen sind.«
BOOK: Sebastian
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