Polar City Blues (20 page)

Read Polar City Blues Online

Authors: Katharine Kerr

BOOK: Polar City Blues
12.03Mb size Format: txt, pdf, ePub

Lacey braucht die frische Luft dringend. Der Mangel an Schlaf macht sich nun bemerkbar; nur das Adrenalin, das Angst und Wut mobilisiert hat, hält sie noch wach. Doch wenn ihr auch das Denken etwas schwerer fällt als gewöhnlich, ist ihr Plan über das weitere Vorgehen fast fertig. Bates könnte jeden einzelnen Polizisten und jeden aufgebrachten und zur Selbstjustiz neigenden Bürger der Stadt auf den Mörder ansetzen - er würde ihn (oder sie) nicht finden, wenn er sich im Basar versteckte.

Doch der Mord an Sally bringt etwas Neues ins Spiel. Morde gibt es öfter im Basar -Streitigkeiten unter Dealern, Eifersucht, Süchtige, die sich durch Raub das nötige Geld verschaffen wollen , aber ein Mord durch die Fremden ist etwas anderes als ein Mord >unter Freunden<. Sicher hat sich die Neuigkeit schon her-170

umgesprochen, und AI wird es tief getroffen haben. Wenn sie die schrägen Vögel hier überzeugen könnte, daß der Mörder ebensosehr ihr Feind ist wie der der Polizei, dann könnte es gut sein, daß er sich zu einem Paket verschnürt vor Bates' Tür wiederfindet.

Wenn man ein Wesen mit Psi-Fähigkeiten, das außerdem ein exzellent ausgebildeter Profi-Killer ist, mit den üblichen Mitteln des Basars finden kann. Kein Zweifel, daß er (oder sie Lacey ermahnt sich, daß sie schon zu viele Annahmen über den Killer als Tatsachen betrachten) über beliebig viele falsche Papiere und die zugehörigen Legenden verfügt, um an jedem Tag der Woche seine Identität zu wechseln. Da trifft sie etwas am Bein, und Lacey springt auf, hat schon halb den Laser gezogen. Das rothaarige Mädchen verkriecht sich mit einem angstvollen Aufschrei auf seinem Sitz. »War keine Absicht, Mensch.«

Und überrascht stellt Lacey fest, daß das, was sie da getroffen hat, der leere, zerknitterte Essenskarton war, der achtlos auf den Fußboden geworfen wurde. Bevor sie sich wieder hinsetzt, kickt sie ihn über den Gang. Zurück bleibt der Geruch, übertönt auch das süßliche Parfüm der Kleinen: ein stechender, saurer Geruch.

»Heiliger Jesus und Madre de Dios!« Lacey schlägt sich vor Begeisterung auf den Schenkel. »Aber natürlich!«

Das Mädchen fährt herum auf seinem Sitz und starrt sie an. Wahrscheinlich hält sie Lacey für verrückt. Lacey lächelt sie strahlend an, verwirft dann aber doch den Gedanken, ihr zu erklären, daß dieses Überbleibsel ihrer wenig appetitlichen Mahlzeit möglicherweise Polar City vor dem Kriegsrecht gerettet hat. Wenn der Killer sich mit dem Bakterium infizierte, dann ist es mehr als wahrscheinlich, daß er (oder sie) auch diesen Geruch nach verdorbenem Essig an sich hat. Es gibt nun ein Erkennungsmerkmal, auch wenn es sich mit Parfüm ein wenig kaschieren ließe; seine (ihre) falschen Pässe würden ihm (ihr) nicht mehr viel nützen, wenn Lacey jetzt die richtigen Helfer auftreiben kann.

Als sie an der

171

Kreuzung -Straße aussteigt, überfällt sie dieses alte, wohl vertraute und so überaus lästige Gefühl: eine merkwürdige Angst, vermischt mit lähmendem Schuldgefühl. Sie wird diesen Mann aufsuchen müssen, den man den Bürgermeister von Porttown nennt. Ein Glück, daß sie genug Sarah Haschisch eingesteckt hat; sie wird es brauchen, um die Tür Steher und Leibwächter zu bestechen.

Bevor sie die Schwebeplattform hinauf zur Straße betritt, drückt sie sich in eine dunkle Ecke der Station und ruft über ihr Terminal bei Carol zu Hause an. Zu ihrer Überraschung meldet sich nicht der Computer, sondern Carol selbst, und zwar auf Anhieb.

»Ach du bist's, Lacey. Paß auf, ich muß es kurz machen. Ich habe das Zentrum für Infektionskrankheiten auf Sarah angerufen, und die zwölf Minuten Laufzeit sind fast um.«

»Ich will ja bloß wissen, wie es Little Joe geht.«

»Keine Ahnung. Soll heißen, daß sich das verdammte Zeug weiter ausbreitet, aber es scheint ihn nicht umzubringen. Schau, er hat irgendwann gepinkelt - und jetzt machen sich die lieben kleinen Biester da unten zu schaffen, fressen die Haare auf und machen die Haut glatt und glänzend, ein bißchen ledrig.

Es macht ihn fast wahnsinnig, aber ich erzählte ihm, es wäre doch ganz neu und interessant für die Mädchen. Der Witz gefiel ihm überhaupt nicht.«

»Würde ich vermuten, ja.«

»Und jetzt gerade ist ihm auch nicht zum Spaßen, weil die Polizei bei ihm ist. Ich hab' ihm einen Anwalt besorgt, bevor? ich die Grünen und ihre Hypnotiseurin zu ihm gelassen
habe.«

»Hoffentlich. Hast du von der Polizei schon den Bericht über Sally Pharis bekommen?«

Carols Gesicht auf dem winzigen Bildschirm verdüstert sich.

»Hab' ich schon. Hör zu, es könnte auf diese Weise vor sich gehen: Die Bakterien können nicht ungehindert aktiv sein, solange das Opfer lebt, aber danach fressen sie einen 172

auf. Das Zeug verdaut alle tote organische Substanz wie abgestorbene Zellen und Haare und verwandelt sie in einfachen Zucker und eine Art Abfallprodukt, eine merkwürdige Säure. Ich hab' sie gerade im Analysecomputer. Hab' so etwas noch nie gesehen - das ist das, was so schrecklich stinkt.

Diese Fäden, die du auf Sallys Körper gesehen hast, sind nichts weiter als Zuckerkristalle. Eine verrückte Art Kandiszucker. Als Little Joe in der Klinik sein Essen kriegte, einen Soja-Burger, da hättst du mal sehen sollen, was die Bakterien mit dem Brötchen gemacht haben - es hat sich einfach aufgelöst, da, wo er es gehalten hat. Ziemlich scheußlich. Von heute an wird der Ärmste immer eine Gabel brauchen.« Ein schwaches Piepsen ist im Hintergrund zu hören. »Muß Schluß machen, da ist mein Gespräch.«

»Okay. Ich werde Bates anrufen, um zu hören, was Little Joe ihnen erzählt hat.«

Nachdem Carol vom Bildschirm verschwunden ist, tippt Lacey Bates' Nummer ein. Wohin sie jetzt geht, wird sie ihm nicht sagen können, das würde einfach zuviel verderben. Die Adresse des

>Bürgermeisters< ist ein gutgehütetes Geheimnis, zumindest für ehrliche Polizisten wie Bates. Chief Bates meldet sich sofort, als hätte er auf sie gewartet, und ist geradezu begeistert.

»Phantastisch. Werden Sie dafür sorgen, daß er nicht belangt wird?«

»Sie wissen verdammt gut, daß jedes Geständnis unter Hypnose vor Gericht nicht verwendet werden darf. Außerdem, wer fragt nach ein bißchen Rauschgift, wenn es um einen Irren geht, den wir schnappen müssen!«

»Was hat Joe gesagt?«

»Sally hat zu ihm gesagt ich zitiere: >Da begegnet mir doch ein Kerl, ein Blanco, der sich mitten auf der Straße die Kleider vom Leib reißt. Er hatte darunter noch Hemd und Hose, und es sah aus, als wollte er das Zeug in den öffentlichen Recyclingbehälter stopfen.< Wie finden Sie das?«

173

»Jetzt wissen wir wenigstens, daß es ein Kerl ist, keine Frau. Hat Sally etwas von Blut gesagt?«

»Hat sie nicht. Das ist das einzige, was mich ein bißchen zweifeln läßt, ob es der richtige Kerl war.

Nun, vielleicht war sie nicht nahe genug, um die Flecken zu sehen. Es ist unsere einzige Spur, und ich werde sie nicht einfach unter den Tisch fallenlassen.«

Obwohl es sehr schwierig ist und großer Willenskraft bedarf, einen anderen Para zu ignorieren, wenn er telepathisch auf einen einbrüllt, daß man langsamer fahren und; auf den Weg achten soll, ganz zu schweigen von einer Litanei böser Flüche - Mulligan schafft es. Er ist in der richtigen Stimmung, fürchtet weder Tod noch Teufel und wünscht sich nur eines noch: für diese gute Sache zu sterben, damit Lacey unter Tränen und Jammern erkennen muß, daß sie ihn und sonst niemanden liebte. (Zum Glück denkt er nicht; daran, daß Lacey in den letzten fünfzehn Jahren nicht ein einziges Mal geweint hat.) Er hat den zerbeulten blauen Gleiter so hoch wie möglich aufsteigen lassen und drückt jetzt; das Gaspedal durch. Mit gut hundertfünfzig Kilometern pro Stunde dröhnen sie durch die Luft. Hin und wieder läßt er die Maschine in einer weit ausholenden, schwingenden-Bewegung etwas abtauchen.

Kleiner Bruder: Bremse ab. Oder ich TÖTE dich. Trample auf deiner Leiche herum, trete dich breit.

Du kannst nicht fahren. Wirst nicht nach Hause kommen ohne mich.

Gehen ist gesund. MACH JETZT LANGSAMER!!

Aus Mitleid, weil er den Unterton blanker Furcht in Nunks Äußerung spürt, verlangsamt Mulligan auf vielleicht! hundert, und nun hört auch das Klappern und Stöhnen in der Karosserie auf. Sie schweben jetzt am Rand des Rehydrierungskraters entlang. Unter dem blendendweißen Licht der Schwebelampen kann man die Arbeiter sehen: wie Ameisen erscheinen sie aus dieser Höhe. Das veranlaßt Mul-174

ligan, etwas tiefer zu gehen. Zweihundert Meter läßt er die Maschine durchsacken, bevor er sie abfängt.

Ganz langsam werde ich dich töten, kleiner Bruder. Keine Psi-Folter werde ich auslassen, die man in
meiner Heimat für Schwerverbrecher erfunden hat.

Bedauern.
Ich tue nur, worum du mich gebeten hast, großer Bruder. Es eilt: WAS passiert, wenn
Verrückte Insektenfrau jagen?
Wut. Widerwillige Zustimmung.

Laceys Gleiter ist kein Geländefahrzeug; da, wo die planierte Trasse endet, etwa zwei Kilometer vom Rattennest muß Mulligan anhalten. Bevor er noch richtig aufgesetzt hat, hat Nunks schon die Gurte gelöst, die Tür aufgestoßen und ist ausgestiegen. Mulligan läßt die Maschine langsam in den Schatten einer Gruppe von Dornenbäumen gleiten, schließt ab und kommt zurück. Nunks steht da und fährt mit den Händen durch seinen Pelz. Ganze Haarbüschel hat er zwischen den Fingern, die Fahrt scheint ihm doch zugesetzt zu haben.

Kleiner Bruder]
Unartikulierte Wut, eine Warnung. Unaufrichtiges Bedauern. Leichte Entspannung, immer noch warnend. Nach einigen Minuten Herumpirschen im Dickicht findet Mulligan einen Pfad entlang eines Grabens, der dicht mit Gestrüpp überwuchert ist. Er windet sich den Kraterrand entlang, schlägt nach einiger Zeit die Richtung hangabwärts ein, zum Rattennest. Der Pfad ist sehr schmal, deshalb geht Mulligan voraus und versucht, die in den Weg hängenden Zweige, so gut es geht, Beiseitezubiegen, damit sie sich nicht in Nunk's Fell verfangen. So kann der große Bruder sich darauf konzentrieren, Signale an die Insektenfrau zu senden. Die rauhe Rinde der Dornenbäume schürft die Hände auf, und bald wünscht sich Mulligan, er hätte ein gutes Lasermesser mitgenommen. Dann wird ihm klar, daß sie ohne jede Waffe hierhergekommen sind. Nicht einmal ein Taschenmesser haben sie bei sich. Nunks spürt seine plötzliche Besorgnis.

175

Mehr als genug Tote, kleiner Bruder. Nicht töten, niemandem schaden. Niemandem!

Feinde, kein Verständnis.

Gleichgültigkeit.
Wie schade.

Mulligans romantische Träume vom Heldentod verflüchtigen sich rasch, fallen in sich zusammen wie eine abgelegte Sonnenpelerine ( die mitzunehmen er ebenfalls vergessen hat). In aller Klarheit wird ihm bewußt, daß er hier ganz ohne viel Zutun zu Tode kommen konnte, und es für alle Zeiten mit dem Baseball in der Profi-Liga vorbei sein würde.

Großer Bruder: Hier warten? Daß Insektenfrau zu uns kommt?

Nicht warten.
Verachtung.

Im Gleiter warst du derjenige, der Angst hatte.

Keine Angst.
Respektheischende Würde.
Übelkeit, der Magen.

Im Flackern des Nordlichts steigen sie die Bergflanke hinab. Hin und wieder unterbricht das Summen und] Schwirren eines geflügelten Nachttiers oder das Fauchen eines im Dickicht aufgeschreckten Reptils die Stille. Nunks' Geist ist kaum noch wahrzunehmen, ist ganz passiv, nur auf Empfang eingestellt. Mulligan konzentriert sich auf den Weg, um den Zweigen und Ranken auszuweichen, die nach ihnen zu greifen scheinen; so kann er auch vermeiden, daß seine Angst die Insektenfrau abschrecken könnte, die auch so schon schwer genug zu finden ist. Sie haben fast die Talsohle erreicht, als er etwas Großes, Glänzendes im Gestrüpp entdeckt, zehn Meter entfernt rechts von ihrem Pfad. Er übermittelt Nunks, daß er anhalten soll.

Buschwerk zertrampelt, großer Bruder. Jemand hat es hierhergeschleppt.

Wirst du nachsehen ?

Ja.

Weil das Dickicht schon flachgetreten ist, kann Mulligan auf direktem Weg zu dem geheimnisvollen Objekt hinübergehen. Als er näher kommt, erkennt er, daß es ein polyedrisches Zelt aus einer grünlichen, wie Metall wirkenden Folie

176

ist, wie er sie noch nie gesehen hat. Entweder ist es an mehreren Stellen zerrissen, oder die Bewohner haben eine merkwürdige Vorstellung von Fenstern. Als sich etwas bewegt, bleibt Mulligan im Schatten eines Dornenbaums geduckt stehen, aber es ist nur eine der kleinen Eidechsen, die mit einem Flugtier im Maul an dem Zelt vorbeikriecht. Hätte er doch wenigstens eine Taschenlampe mitgenommen! Aber was soll's; er nähert sich, bis er in die dreieckige Öffnung an einer Seite sehen kann. Allerlei Gegenstände sind dort drin aufgestapelt, doch hält er Abstand: Über allem liegt der scharfe Geruch von verdorbenem Essig.

Großer Bruder, was für ein Geruch1. Etwas stimmt nicht hier. Kannst du es riechen?

Ja. KOMM ZURÜCK! SOFORT! Krankheit, sehr gefährlich.

Während er zurückgeht, öffnet sich Mulligan ein wenig dem Hintergrundsignal, das von diesem Ort ausgeht. Der Fresser ist hier, gierig und räuberisch, umgibt ihn wie eine Wolke aus purer Freßgier.

Unwillkürlich schreit er auf.

Ich weiß, kleiner Bruder. Seltsames Wesen, sehr, sehr seltsam. Kein intelligentes Leben. Kein
Individuum, ein Geist aus vielen Einzelwesen. Primitiv.

Ein Tier?

Tier, aber sehr primitiv. Kaum zu verstehen.

Er kauert sich neben Nunks, der mit gekreuzten Beinen mitten auf dem Pfad sitzt. Nach einer kleinen Pause meldet er sich wieder.

Beginne zu verstehen. Dieses Ding, Zelt, nicht weit vom Krater. Eine Spur führt zurück dorthin.

Verwirrung.

Ärger.
Was ist im Krater? Aus dem Weltall? Kometeneis.

Sehr gut1.
Ironie.
Also, das fremde Wesen, das Zelt woher?
Ungläubiges Staunen.
Aus einem
Kometen? Vor langer Zeit eingefroren? Ein Unfall?

Nur eine Vermutung: eine Art Rettungskapsel, vielleicht Kälteschlaf. Sicherer Ort, bis hier zu Boden
gebracht, nicht lange her. Aufgetaut.

177

Schock.
Alles haben sie überlebt! Das Unglück, das unkontrollierte Auftauchen - dann wird der
Insektenmann von Verrückten getötet.
Übergroßes Mitleid.

Zustimmung. Trauer.

Eine Weile sitzen sie schweigend da, tauschen sich aus. Jetzt können sie den hysterischen Aufschrei der Insektenfrau verstehen, ihre mit Wut vermischte hilflose Trauer. Kein Wunder, sagt sich Mulligan, daß sie wieder floh, kaum daß sie mit ihnen Kontakt aufgenommen hatte: Was konnte sie sich noch von den Bewohnern dieses Planeten versprechen, nachdem mörderische Irre ihren Geliebten oder Mann oder was auch immer getötet hatten. (Mulligan weiß genug über Xenobiologie, um Begriffe wie Liebe und Sex nicht einfach auf andere Spezies zu übertragen, denn auf diesem Gebiet gab es die erstaunlichsten Unterschiede.) Vielleicht dachte sie sogar, daß sein und Nunks' Mitgefühl geheuchelt war, um sie in eine Falle zu locken.

Plötzlich erstarrt Nunks, wird mißtrauisch. Sein Aufschrecken überträgt sich auf Mulligan. Alarmiert drängt er das Signal des Fressers beiseite, läßt das unsinnige Geplapper aus dem Rattennest über sich ergehen, filtert geschickt und sucht, bis er jenes neue Element gefunden hat: Das Suchsignal eines anderen Psi-Wesens, das hastig unterdrückt wird. Obwohl es kaum wahrnehmbar war, spürt er die Kälte, die unpersönliche Feindseligkeit wie eine kalte Messerklinge über seinen Rücken gleiten.

Kleiner Bruder. Jemand ... ein Spion, ein Spion sucht uns.

Nicht die Insektenfrau ?

Nein.

Der Killer
Entsetzen.

Vielleicht, vielleicht auch nicht, kleiner Bruder. Einige der Verrückten hier besitzen Psi. Ohne zu
wissen. Deshalb verrückt.

Oh.

Sie warten einige Zeit, suchen das Signal, kombinieren ihre Psi-Kraft, um es zu orten, aber es bleibt unauffindbar. Dagegen haben sie plötzlich wieder Kontakt mit der Insektenfrau, wenn auch fast außerhalb ihrer Reichweite. Mulligan hört sie, nimmt deutlich ihren Kummer wahr. Er ruft sie, zart und behutsam, versucht es mehrmals, legt sein Mitgefühl in das Signal, ruft wieder - sie schweigt. Da fällt ihm etwas ein, taucht mit einem Mal aus der Tiefe seines Unbewußten auf: ein paar Sätze, ein Bruchstück jener Bildung, die man ihm in der Schule zu vermitteln suchte, wo es nicht nur Baseball gab. Einige Zeilen aus einem sehr alten Gedicht, das er hatte auswendig lernen müssen. Er sendet es.

Feindlich der Ort, der mich lauern macht,

Eins mit der Düsternis rings.

Was sonst ist die Hölle als ein Herz aus Eis?*

Die Welle von Schmerz, die ihm als Antwort entgegenbrandet, betäubt und überwältigt ihn. Er weint, sitzt schluchzend auf dem staubigen Pferd, doch er spürt, daß er auf diese Weise einigen Kummer von ihr nehmen kann, wie ein Arzt, der einen eiternden Abszeß entleert. Und sie weiß es auch. Einen Augenblick zögert sie, unschlüssig, ob sie sich öffnen soll. Dann hüllt sie sich wieder in ihren Mantel aus Furcht und Wut und flüchtet. Nunks tätschelt ihm die Schulter, bis er schließlich aufhören kann zu weinen.

Kleiner Bruder, viele verspotten dich. Kümmere dich nicht darum, du bist in Ordnung.

Fast hätte Mulligan wieder geweint, diesmal aus Dankbarkeit, aber er kann sich zusammennehmen.

Mit dem Ärmel wischt er sich das Gesicht trocken.

Müssen sie finden,
meldet sich Nunks.
Wenn wir nahe genüg sind, wenn sie uns sieht, dann wird sie
verstehen, uns vertrauen.

Einverständnis.
Aber WIE?

Verblüffung.
Weitergehen, näherkommen.

Einverständnis.
Welche Richtung?

im Original: In a lurking place I lurk, One with the sullen dark, What's hell but a cold heart?

178

179

Ärger und Verblüffung.
Warte\
Selbstironie.
Wir werden sie triangulieren. Kleiner Bruder: Wissen
wie?

Nein.

Ich zeige. Sehr nützliche Technik. Du bleibst hier, ich gehe ein Stück. Dann: Wir nehmen Kontakt mit
ihr auf. Spüren den Winkel, können Dreieck bilden, Position bestimmen.

Ich verstehe! Wie Navigation.

Erfreute Zustimmung.

Bevor Nunks sich auf den Weg macht, prüfen sie beide sehr sorgfältig, was an Signalen auf sie einströmt; jenes feindselige Bewußtsein, vor dem sie auf der Hut sein müssen, ist nicht mehr wahrzunehmen. Entfernt kann Mulligan die alte Meg hören, wie sie über ihren Karten murmelt, aber das ist das einzige Psi-Signal weit und breit, bis auf dieses allgegenwärtige Freß-Tier. Sehr vorsichtig, um sich mit seinem Fell nicht in den Dornen zu verfangen, folgt Nunks dem Pfad zum Rattennest, wo aller Wahrscheinlichkeit nach die Insektenfrau sich versteckt. Als er außer Sicht ist, packt Mulligan sofort wieder die Angst. Jeder Schatten scheint den Killer zu verbergen, bis an die Zähne mit unheimlichen Waffen gerüstet, und jeder Reflex des Nordlichts auf einem Blatt oder Kieselstein erscheint ihm als Aufblitzen eines Messers.

Der Schrei ist so unheimlich, daß es einen Augenblick dauert, bis Mulligan erkennt, daß er von Nunks kommt: Etwas muß ihn so erschreckt haben, daß er laut aufheult, ein physischer Angstschrei, tatsächlich. Mulligan ist schon am Laufen, als das Psi-Signal ihn erreicht:
Lauf, kleiner Bruder! Rette dich

Aber Mulligan hört noch eine andere, menschliche Stimme. Eine Männerstimme, die jodelt. Der Freudenschrei eines Irren.

»Laßt ihn in Ruhe!« Er hat kaum gemerkt, daß er gesprochen hat, er ist schon auf dem Weg zu Nunks.

Knirschend und krachend stürmt er aus dem Dickicht und sieht Nunks, der sich vor einen Brocken Plastbeton geduckt hat. Vor ihm haben sich ein Mensch, ein Schwarzer mit unglaublich langem und dichtem Haarschopf, und ein

180

grauhäutiger Lizzie aufgebaut, die Kunststoffrohre schwingen. Und ein dritter Mann, ein Weißer, hat tatsächlich eine Axt in den Händen. Ganz sicher Wilder Mann, alter Veteran und John Hancock, denkt Mulligan. Er hat Angst, und er schmeckt sie sogar, wie irgend etwas Faules in seinem Mund. Langsam richtet Nunks sich auf und streckt eine Hand aus, eine Friedensgeste; gleichzeitig versucht er, so etwas wie Ruhe und Vernunft auf sie zu übertragen. Die Antwort ist nichts als Kreischen und meckerndes Lachen. Der Lizzie stampft auf den Boden, bewegt sich hin und her, ein Kriegstanz vielleicht, und hebt das Rohrende. Die Menschen rücken näher an Nunks heran.

Kleiner Bruder, verschwinde hier
zum Gleiter! Hol Hilfe im Krater, die Männer dort

»He, Ihr Drecksäcke!« Mulligan schwenkt die Arme über dem Kopf, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. »Hunde-schnauzen-Lizzie! Wurmfresser! He, weißer Blödmann, hast du heute schon 'ne Ratte gefressen? Wilder Mann, Knacks im Hirn, stinkst wie'n Schwein!«

Die drei sind herumgefahren, stottern verblüfft, ihre Waffen noch immer erhoben, und starren in dem unsteten bunten Licht nach dem Störenfried. Mulligan spürt, daß Nunks ein ungeheuer starkes Schutzschild ausstrahlt, um ihn zu verbergen.

Großer Bruder, wir fliehen zusammen!

Beide unmöglich. Unnötig, daß beide sterben. DU gehst, bring Hilfe. Ich komme nach.

»Wurmfresser! Wurmfresser!« In seiner entsetzlichen Angst fällt ihm nichts Besseres ein als die Schimpfworte seiner Kindheit. »Weißer Stinker, weißer Stinker!«

Der Lizzie stürzt als erster auf ihn zu, er knirscht mit den Zähnen, und mit Geheule folgen ihm seine Freunde. Wild fuchteln sie mit ihren Waffen, fluchen und drohen, ihn in Stücke zu schlagen. Mit einem irren Lachen springt er auf einen Haufen Abfall, macht dann nach der anderen Seite einen Satz und rennt los. Jetzt ist er im Vorteil, der geborene Sportler, dem seine Rundenzeiten mehr bedeuten als jede

181

Religion, gegenüber Feinden, die ihren Atem mit Schimpfen vergeuden. Er zügelt sein Tempo, damit sie nicht aufgeben, während er im Zickzackkurs durch die Ruinenlandschaft jagt. Als ein Rohrende an seinem Kopf vorbeisaust, macht er einen Sprung zur Seite, gerade rechtzeitig, um der nachfolgenden Axt auszuweichen.

Voraus erkennt er jetzt die weißen Flanken des eingefallenen Kontrollturms. Er wendet sich nach links, dort ist eine lange, ebene Strecke, wo er leicht den Vorsprung vergrößern kann. Das Fluchen hinter ihm hat schon eine Weile aufgehört und ist einem mühsamen Keuchen gewichen. Er tut, als wollte er zum Spurt ansetzen, bevor er um die Ecke des Turms biegt. Doch schlägt er die Richtung ein, aus der er gekommen ist. Inzwischen muß Nunks schon im Dickicht verschwunden und in Sicherheit sein. Die Luft wird ihm langsam knapp, aber er hat die drei Irren ein gutes Stück hinter sich gelassen.

Stolpernd versuchen sie, mitzuhalten. Seine Lunge schmerzt, das Herz klopft wie wild, als er die Landebahn entlangläuft und dann weiter über die grüne, grasbewachsene Ebene, durchzogen von schmalen Bächen, die im Licht der gelben Sonne glitzern.

Als er sich umschaut, sind die drei verschwunden. Er kann sich Zeit lassen und verschnaufen. Vor ihm am fernen Horizont liegt eine violett überstrahlte Bergkette; von dort muß dieser Fluß kommen, an dessen Ufer er nun geht. Plötzlich wird ihm klar, daß er nicht mehr weiß, wo er ist. Er sieht sich wieder um, und da ist eine Gestalt in einem langen, fließenden Gewand, nicht weit hinter ihm. Sie beugt sich übe irgendein großes, pelziges Tier.

»Äh ... hallo, Miss?« Mit einem freundlichen Winken geht Mulligan zu ihr hinüber. »Entschuldigung, ich hab' mich verlaufen. Können Sie' mir den Weg zurück zum Rattennest, zeigen?«

Die Frau schaut auf und wendet sich ihm zu. Es ist das graue Lizzie-Gesicht von alter Veteran. Mit einem Schrei macht Mulligan einen Satz von ihm weg, aber etwas Harte trifft ihn am Hinterkopf, und alles wird schwarz um ihn.

182

Zweites Zwischenspiel Der Gejagte

Nachdem er Ibrahim getötet hatte, duschte Tomaso ausgiebig in Sallys Bad. Mit heißem Wasser und obwohl er verschiedene parfümierte Seifen probierte, war der Essiggeruch in dem Augenblick wieder da, in dem er sich abgetrocknet hatte. Danach hatte auch dieses Jucken begonnen, und wo es auftrat, verhärtete sich die Haut auf eine merkwürdige Weise: an den Armen, auf der Brust und in der Genitalregion - praktisch überall, wo seine Haut Sally berührt hatte. Er rieb sich von Kopf bis Fuß mit einer stark duftenden Lotion ein, doch es änderte nicht viel. Sobald er angezogen war, ging das Jucken und Stinken wieder los. Als er das Haus verließ, kamen ihm zwei Lizzies entgegen; einer davon blieb stehen, hob witternd die lange Schnauze und sagte leise etwas zu seinem Artgenossen. Fast wäre Tomaso losgelaufen, aber seine lange Ausbildung war nicht umsonst, er konnte sich beherrschen.

Ganz unbekümmert ging er an den beiden vorbei, als hätte er nichts bemerkt.

Keine Gasse auf seinem Weg ließ er aus, keinen Umweg verschmähte er, der Verfolger in die Irre führen konnte, bis er die nächste U-Bahnstation erreicht hatte. Er fuhr zwanzig Haltestellen weit nach Norden, stieg aus, nahm den Gegenzug und fuhr wieder sechs Haltestellen zurück. Dann erst bestieg er den Zug nach Osten, in dem er jetzt sitzt. Etwa zu der Zeit, als Bates und Lacey Ibrahims Leiche finden, fährt sein Zug in die zentrale U-Bahnstation des Basars ein. Während ihn die Schwebeplattform nach oben trägt, spürt er, daß er beobachtet wird. Er kann das körperlich fühlen, es ist, als würde das Leuchten einer Taschenlampe direkt in seinen Schädel dringen. Draußen vor der Station erwartet ihn eine überdachte Einkaufspassage, keineswegs elegant, was konnte man hier anderes erwarten als schäbige Läden und

183

Kioske unter den verblaßten Markisen. Einige wenige Leute bummelten durch die Straßen unter ihren Sonnenpelerinen, zu müde, um etwas zu kaufen, zu betrunken, um nach Hause gehen zu wollen.

Tomaso verschwindet hinter einem Kiosk, der Kaukraut verkauft, und beobachtet den Ausgang der Station. Ein Paar im weißen Sonnenschutz kommt heraus, zögert ein wenig und entfernt sich dann langsamen Schrittes. Dieser Sonnenschutz, der ihm einmal sehr gelegen kam, treibt ihn noch zum Wahnsinn. Er hat keine Ahnung, wer diese Leute sind, aber er ist sicher, daß sie es waren, die ihn beobachteten, als er auf der transparenten Plattform nach oben getragen wurde. Die Frage ist: warum?

Other books

The Given Sacrifice by S. M. Stirling
The Dark Place by Aaron Elkins
Blood Red by Sharon Page
Improper English by Katie MacAlister
The Darcy Cousins by Monica Fairview
Caleb's Story by Patricia MacLachlan